Großbritannien
Große ErwartungenReise, 19.12.2007, Iris Tietze
Die Welt des Charles Dickens: Wo Literatur zum Freizeitvergnügen wird
Ein fauliger Geruch krabbelt die Nase hoch. Langsam gleitet das Boot durch einen Abwasserkanal. Plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit: „Gebt mir ein Boot!” Es ist Magwitch, der Gefangene aus „Große Erwartungen”, auf der Flucht vor der Polizei. Sein Entkommen können die Besucher von „Dickens World” auf einer Bootsfahrt nacherleben - mit Grauen, Bangen und Herzklopfen. 62 Mio Pfund (90 Mio Euro) haben Investoren in diese Attraktion eine Zugstunde südöstlich von London gesteckt. Seit Mai bieten sie eine Zeitreise in das viktorianische England des Literaten Charles Dickens (1812-1870) an.
„Manche Besucher erwarten ein Museum, andere einen Vergnügungspark - wir sind genau dazwischen”, sagt Geschäftsführer Ross Hutchins. Der Akzent liegt natürlich auf Dickens' Geschichten. Denn seine Figuren sind spannend. Da wird Ebenezer Scrooge vom Geist der vergangenen Weihnacht aufgeschreckt, und Oliver Twist streckt den Arm mit seiner leeren Bettelschale aus. Ein Disneyland im viktorianischen Outfit? „Hier laufen keine überdimensionalen Figuren herum, und es geht um mehr als Fahrgeschäfte. Die Figuren sind meist Animationen, etwa im 3D-Kino. Wir wollen Bildung und Unterhaltung bieten”, sagt Hutchins.
Besucher fahren in einem Boot durch die Kulissen einer Stadt
im Dickens World Themenpark in Chatham, Kent, England.
Die triste, oft nebelige Umgebung von Chatham diente Dickens als Vorlage für seinen Roman „Große Erwartungen”. Die Gegend kannte er gut: Sein Vater, ein Marinezahlmeister, arbeitete im Hafen, nicht weit von dort, wo jetzt „Dickens World” untergebracht ist. Kein Tageslicht dringt in die Halle, die verwinkelten Gässchen werden von Straßenlaternen beleuchtet. Hunde bellen, Pferde wiehern, manchmal kann man sie sogar riechen.
„Hinsetzen! Wir testen heute das Wissen über Charles Dickens!”, ruft Schulmeister Wackford Squeers einem Trupp Kindern zu. Sein schwarzer Umhang wallt bis zum Boden, der akademische Hut sitzt korrekt und gerade. Bedrohlich lässt er seinen Holzstock beim Laufen auf den Boden knallen und schaut mit strengem Blick zur Schulbank. Die Kleinen kichern, spielen auf dem so genannten Touchscreen, einem Sensorbildschirm, einen Wissenstest in einem viktorianischen Schulraum - auf kargen Holzbänken. Der Putz bröckelt, und an der Wand steht in großen Lettern: „Sprich nur, wenn du gefragt wirst!”. Es ist die Schule „Dotheboys Hall” aus „Nicholas Nickleby”, in Originalgröße nachgebaut.
Hier müssen große und kleine Besucher nicht selten einen ordentlichen Rüffel einstecken und erfahren so, welch strenges Regime die Lehrer einst führten. Wackford Squeers wird von Mike Gentry dargestellt. Er ist einer von 20 Schauspielern in zeitgenössischen Kostümen, die mit den Besuchern agieren. Der 22-Jährige wurde in viktorianischen Manieren, Sprache und Geschichte unterrichtet, bevor er zum Schulmeister im Park avancierte. Authentizität ist alles in „Dickens World” . Die Internationale Dickens-Gesellschaft wird bei vielen Fragen einbezogen. Wie sahen die Häuser damals aus? Welche Kleidung trugen die Menschen? Doch dieser Anspruch auf Echtheit bedeutet auch, die hässlichen Seiten des viktorianischen Zeitalters nicht zu verschweigen: Armut, Kriminalität, Kinderarbeit. All dies thematisierte Dickens.
„Wir haben die Geschichten ein wenig abgemildert. Das ist alles eine Frage der Interpretation”, so Hutchins. Trotzdem hinterlässt der Park einen gruseligen Eindruck. Für kleine Kinder nicht perfekt. Vielleicht aber für das Kind in jedem Besucher, der die Dickens-Geschichten kennt. Auf alle Fälle für Literaturliebhaber, die sich gerne in eine Zeit entführen lassen, die von Armut, Hunger und Not, aber auch von der industriellen Revolution gekennzeichnet war.
Quelle: DerWesten.de
Webseite des Parks: http://www.dickensworld.co.uk/