Letzte Bearbeitung am 25-Apr-04 um 00:32 Uhr ()
Hallo!Am Dienstag hatte das neue Roncalli-Programm Premiere. Es läuft zwar weiter unter dem Namen "Teatro Paradiso" und enthält auch einige bekannte Nummern, aber auch einiges Neues.
Ich weiß nicht, wie sehr sich hier die Leute für Circus interessieren, aber ich schreibe das mal für diejenigen, die diese Saison noch reinwollen.
David Shiner: Jeder, der sich auch nur ansatzweise dafür interessiert dürfte den Amerikaner David Shiner kennen, der von Bernhard Paul vor dem Centre Pompidou in Paris für den Circus entdeckt wurde und der dann Weltkarriere gemacht hat und nicht nur aus Filmen bekannt ist, sondern - gemeinsam mit dem ebenso genialen Bill Irwin - am Broadway Erfolge feierte. Sein Stück "Fool Moon" wurde mit dem Tony (höchste US-Bühnenauszeichnung) ausgezeichnet und auch sonst hat er so ziemlich jede Auszeichnung, die man in dem Metier bekommen kann.
WOOOOOOOOW! Wie kann man nur mit einem Blick das Publikum dermaßen in seinen Bann nehmen. Andrei Jigalov, der vorige Solo-Komiker von Roncalli hat ja schon Beifallsstürme geerntet, aber das was David Shiner macht ist unbeschreiblich. Ich kannte zwar alle von ihm gezeigten Sachen schon, da ich schon lange zu seinen Fans gehöre, aber durch seine Beobachtungsgabe und sein Improvisationstalent bringt er innerhalb von Sekunden das Publikum zum Kochen und ist auch später beim Finale der absolute Star, der alle anderen WEIT hinter sich lässt. Ein Ausnahmetalent, der nicht umsonst in den USA mit den ganz großen Klassikern der Komik verglichen wird.
Noch eine Anmerkung: diejenigen, die ihn sehen wollen (und wer will das nicht, denn sonst ist er hierzulande nicht mehr zu sehen), müssen das zu Beginn der Tournee tun, da er in der zweiten Hälfte durch Peter Shub ersetzt wird, der auch damals fast gleichzeitig mit David Shiner bei Roncalli seine Karriere anfing.
Entree: Das klassische Clown-Entree hat mich leider nicht so überzeugt. In erster Linie fehlt Enrico Caroli, der wohl als Weißclown unerreicht bleiben wird. Auch Gougou hat mir im Restaurant-Entree deutlich besser gefallen, wenngleich er für mich im Entree der Beste bleibt und insgesamt ein komisches Naturtalent ist (und ganz im französischen Stil sehr dezent und elegant arbeitet und niemals grell oder plump wirkt. Dass er auch privat ein sehr kultureller, belesener und gebildeter Mensch ist, kann er selbst im Scheinwerferlicht nicht verbergen, was seiner Arbeit sehr gut tut und ihm einen unvergleichlichen Stil verleiht!)
Pferde: Die langjährige Pferde-Nummer der Britin Jasmine Smart wurde gestrichen. Da ich Tierdressuren im Circus eh sehr kritisch gegenüberstehe (wobei ich Pferde noch akzeptabler finde als Nummern mit Elefanten, Raubkatzen, Zebras, und anderen Exoten), ist das für mich kein so großer Verlust, auch wenn manches kleine Kind schon ein wenig enttäuscht ist, dass es keine Tiernummer gibt.
Artistik: Einen kleinen Seitenhieb auf eine gewisse Freizeitparkshow kann ich mir nicht verkneifen: wer mehrmals Handequilibristik in einem Programm macht, sollte sich mal Jaqueline Alvarez und Eric Varelas ansehen. So bringt man zwei (in dem Fall sogar extrem) ähnliche Nummern in einem Programm, die sich aber genial ergänzen und die auch für sich genommen keine Längen oder Wiederholungen bieten. Eric Varelas zeigt sehr poetische Figuren, die auch von Outfit und Licht an das Trio Olympiades erinnern und niemals Wiederholungen enthalten und Jaqueline ihre bekannte Blocknummer.
Und auch hier gibt es zusätzlich zu zwei mal Handequilibristik auch noch eine klassische Hand-auf-Hand-Nummer, allerdings sehr dynamisch und deshalb mit komplett anderer Atmosphäre.
Und für Kenner dürfte klar sein: wo Jaqueline ist, sind ihre Schwester mit ihrer Antipodennummer und ihr Vater mit seiner Jongleurnummer nicht weit.
Ihr Vater Manuel arbeitet jetzt nicht mehr solo, sondern in einer Gruppe, die als Schaubild für die Familiennummern um die Jahrhundertwende dient und zwar technisch eher schwach ist (bis auf Manuel Alvarez), was aber auch nicht Ziel der Nummer ist, aber von Kostümen, Komik und Atmosphäre her voll überzeugen kann und eine typische Roncallinummer ist. Genial finde ich Gougou als dusselige Oma, die nicht aufhören kann und auch mit 100 noch in der Manege ihren Mann - pardon, ihre Frau - stehen will. Das ideale Ende des ersten Teils.
Das gleiche gilt für die Schleuderbrettnummer, die roncalli-eigen ist und mehr von der Gesamtkonzeption statt von der Leistung lebt. Auch hier wieder einige gute Nummern, aber technisch gibt es bessere, aber der Stil ist wieder einmalig (auch wenn ich dieses komisch-griechische nicht so sehr mag und in punkto Schleuderbrett z.B. mehr an die von den Gemälden Marc Chagalls und Franz Marcs (blauer Reiter) inspirierte Nummer denke).
Duo Milany: sehr sinnlich und spektakulär am Trapez!
Rokashkovs: diese russische Recknummer, die eine südamerikanische Liebesgeschichte erzählt, wurde schon mehrfach ausgezeichnet. Ich finde sie nicht schlecht, glaube aber, dass David Shiners Filmsketch die bessere Schlussnummer wäre, da anspruchsvolle Artistik es nach seinen mehrminütigen Beifallsstürmen schwer hat. Diese beiden Nummern wären umgekehrt besser.
Sandro: wer Roncalli letztes Jahr gesehen hat, kennt den portugiesischen komischen Requisiteur Sandro. Die traditionellen komischen Requisiteure haben bei Roncalli Tradition, aber Sandro ist wirklich eine Ausnahmeerscheinung. Der hat noch viel vor sich!
Orchester: Da Bernhard Paul ein detailverliebter Perfektionist ist (und noch dazu Nostalgiker), kommt für ihn natürlich auch nur ein Live-Orchester in Frage, da zum klassichen Circus nun mal Live-Musik gehört. Auch wenn es dort einige personelle Änderungen gab, spielen sie natürlich wieder perfekt, wie nicht anders gewohnt. Mir fehlt zwar das alte Opening mit den Rossi-Brüdern, aber die Musik ist natürlich wieder absolut passend und macht einen Großteil der Atmosphäre aus.
Finale: Roncalli-typisch wird das Finale ausgedehnt und dient noch für mehrere kleine Einlagen. (Kenner wissen, dass man bei Roncalli nie beim Finale aufsteht um noch schnell vor dem Ansturm vom Parkplatz weg zu kommen, was aber auch bei anderen unhöflich ist. Auch nach Schließen des Vorhangs folgt oft noch eine Zugabe). Und hier gibt es einen weiteren Höhepunkt: Gougou und seine Drehorgel. Ganz ehrlich: ich glaube nicht, dass man ein Finale romantischer und stimmungsvoller beenden kann. Der Vorhang schließt sich und Gougou zieht mit seiner Drehorgel durch die Manege und singt ein französiches Chanson dazu. Schließlich öffnet sich der Vorhang wieder und dann... das muss man selbst erleben um eine Stimmung zu erhalten, die einem die süßesten Träume beschert und einen mit einer unbeschreiblichen Atmosphäre in die schnöde reale Welt entlässt, jedoch einen Funken Phantasie, Romantik und Nostalgie mit auf den Weg gibt.
Fazit: Insgesamt hat mich persönlich die Abschiedstournee von Enrico Caroli mehr begeistert, aber artistisch gesehen bietet dieses Programm mehr und alleine David Shiner ist den Preis wert. Das Ende (nach dem Finale) ist absolut roncalli-typisch und erinnert an "Die Reise zum Regenbogen". Perfektes Ende, erst recht, da die Melodie beim Rausgehen im Restaurationszelt wieder aufgenommen wird.
Wer Teatro Paradiso im letzten Jahr gesehen hat, wird viel Bekanntes entdecken, aber alleine David Shiner ist den Preis wert. Vor allem die Gesamtinszenierung, die schon beim Betreten anfängt, kann wieder überzeugen, auch wenn nach wie vor die teuersten Plätze die Unbequemsten sind: in der Loge sitzt man wirklich extrem eng auf seinem Nachbarn und hat kaum Platz für die Beine.
Und da manche von mir ja eine Note erwarten: 2
Marco
PS: Lob auch für den Abendregisseur Patric Philadelphia, der wirklich für ALLES ein Auge hat.