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Das Kinderglück wird vorfabriziert
11-Nov-05, 13:44 Uhr ()
Ein meiner Meinung nach sehr lesenswerter Artikel, bei dem ich mir nicht sicher war, ob er hierhin oder eher in die Plauderecke gehört. Der Schweizer Tagesanzeiger berichtet:

Das Kinderglück wird vorfabriziert


Noch nie konnten die Kinder unter so vielen Spielangeboten wählen. Und noch nie hatten sie so wenig dazu zu sagen.

Von Walter Jäggi

Die heutigen Eltern sind die erste Generation, die selber auf Kinderspielplätzen aufgewachsen ist. Noch die Grosseltern hatten sich den Raum und die Accessoires für ihre Spiele selber suchen müssen – von ihren Abenteuern erzählen Pippi Langstrumpf, Tom Sawyer oder Eugen und seine Freunde. Für die Kinder von morgen wird auch der Spielplatz hinter dem Haus nur noch in Geschichten vorkommen oder in einer Fernsehserie aus dem Archiv.

Fun for Kids gibt es heute so viel wie nie zuvor. Aber das Angebot wird zusehends zu einem Geschäft der Erwachsenen. Man kann als Kind des 21. Jahrhunderts alles haben – aber fast nichts mehr ist gratis. Und genau genommen kann man auch nicht das haben, was man will, sondern nur das, was die Grossen für richtig befinden.

Spielplatz mit Eintritt
Das auffälligste Beispiel sind die Hallenspielplätze, von denen immer mehr entstehen. Vor etwa sieben Jahren, schreibt das Fachmagazin der Freizeitbranche, «Euro Amusement Professional», sei die Welle der Hallenspielplätze von Holland aus in den Nordwesten Deutschlands (in die Riesenagglomeration Ruhrgebiet) übergeschwappt. In den letzten zwei Jahren habe sich nun ein wahrer Boom entwickelt.

Deutschland zählt bereits etwa 200 Hallenspielplätze, ihre Anzahl dürfte sich in den nächsten Jahren verdoppeln, erwarten die Marktexperten. Und langsam, aber sicher etablieren sich auch hier zu Lande die Indoor-Spielplätze. Hier wird mit viel betriebswirtschaftlichem und Marketingwissen aus dem Nichts eine neue Branche aufgebaut.

Gebührenpflichtig befriedigt werden in den Hallenspielplätzen zum grossen Teil Bedürfnisse, für die es bisher Gratisangebote in Form von konventionellen Spielplätzen gab. Bibiana Walder, Projektleiterin am Institut für Tourismus- und Freizeitforschung der Hochschule Chur (HTW), glaubt allerdings nicht, dass sich die Hallenspielplätze einfach den anderen Spielplätzen als Konkurrenz gegenüberstellen lassen: «Hallenspielplätze gehören eher zum Eventbereich, die Anreise ist aber kürzer und der Eintrittspreis günstiger als bei einem Freizeitpark. Der Spielplatz dagegen ist ein lokaler Treffpunkt für den Alltag.»

Perfektion im Übermass
Die neue Marktnische ist nach Walders Ansicht aus verschiedenen Gründen so erfolgreich: Das Angebot ist unabhängig vom Wetter, die erwachsenen Begleitpersonen können sich im Gastronomiebereich entspannen, während die Kinder gut aufgehoben sind.

Eine Touristenattraktion um derentwillen man irgendwohin reise, seien die Hallenspielplätze aber nicht. Das sah der Spielgerätehersteller Benno Schäfer kürzlich an der Fachmesse Play & Leisure in Friedrichshafen anders: «Die Leute reisen heute nicht mehr in die Ferien, um ‹auch einmal dort gewesen› zu sein, denn sie waren schon überall.» Das Reiseverhalten der Familien sei ganz anders als früher – nicht nur weil sich die Zahl der Ferientage in Deutschland innert 40 Jahren von 9 auf 31 erhöht habe. Allein Erziehende, Patchworkfamilien oder Grosseltern, die mit Kindern verreisen, seien heute häufig.

Die Qualität des Ziels spiele eine grössere Rolle. Von den Ferien bleibe Gästen mit Kindern vor allem der Spielplatz in Erinnerung. Spielplätze aller Art seien in Tourismuskonzepten aber auch beim Stadtmarketing wichtig geworden. Sogar ein Erstklasshotel wie das Steigenberger am Frankfurter Flughafen habe jetzt einen Kinderspielbereich.

Auf Kinder als Besucher (das heisst als Kundensegment) haben sich aber auch Einkaufszentren, Museen, Zoos, Campingplätze, Freizeitparks eingestellt – überall gibt es Spiel- und Erlebniszonen.

Der solchermassen mit System geplante und gebaute Spielplatz – ob drinnen oder draussen – neigt zur Perfektion. Die Spielgeräte sind pfiffig designt, ausgeklügelt gestaltet und sicherheitstechnisch ausgereift. Eltern, die ihre Kinder beispielsweise in eine Indoor-Spielhalle bringen, schätzen diese professionelle Technik. Erziehungsfachleute sehen darin dagegen den grössten Nachteil solcher Anlagen.

«In der Halle werden die Kinder auch bei schlechtem Wetter weder nass noch dreckig, das gefällt den Eltern», sagt Lesly Luff, Kindergärtnerin und Spielraumberaterin. Doch für Kinder sei schlechtes Wetter überhaupt kein Argument. Hallenspielplätze, so glaubt Luff, entsprächen dem, was sich die Erwachsenen unter einem guten Spielplatz vorstellten: «Die Eltern können nachvollziehen, was hier passiert. Ausserdem werden die Kinder beaufsichtigt.»

Für Erziehungsfachleute muss ein guter Spielplatz allerdings ganz andere Qualitäten haben. Sicherheit in Ehren, aber «wenn man gemäss einer neuen europä-ischen Norm überall ein Geländer anbringen muss, wo es ein 60 Zentimeter hohes Mäuerchen hat, kann man keine Spielplätze mehr bauen», sagt Marco Hüttenmoser von der Dokumentationsstelle Kind und Umwelt.

Überall die gleichen Plastikkugeln
Zwar versuchen die Ersteller von Hallenspielplätzen und Freizeitparks ideenreich Abenteuerstimmung zu verbreiten. Aber wenn die Baumhütten nicht mehr von einer Kinderbande selber gezimmert werden können, sondern von Profis vorgefertigt und dann per Kran versetzt werden, wird das Abenteuer zur Inszenierung. Viele Spielgeräte wie Rutschbahnen, Schaukeln oder Becken voller Plastikkugeln sind überall dieselben – grösseren Kindern verleiden sie rasch. Doch die Anlagen sind fix, Kinder können sie nicht nach ihren Wünschen verändern.

Es muss Risiken geben dürfen
Es gibt in unserer Gesellschaft vernachlässigte Kinder, häufiger sind die überbehüteten. Wenn Kinder als sorgfältig eingeplante, verwaltete und rare Luxusobjekte gesehen werden, gilt ihnen eine enorme Aufmerksamkeit, sie werden geradezu in Watte gepackt.

Harmlose, langweilige Spielplätze sind aber genau das Gegenteil von dem, was Jugendfachleute für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder wichtig finden. Die eidgenössische Kommission für Kinder- und Jugendfragen schreibt in ihrem jüngsten Bericht: «Bei aller notwendigen Vorsicht plädieren wir dafür, dass Erwachsene den Mut haben, auch jüngeren Kindern kontrollfreie Räume zuzugestehen und gewisse Risiken (wie zum Beispiel Schmutz und Nässe, kleine Unfälle, Streit mit Hauswarten) zuzulassen.»

Die Kommission empfiehlt unter anderem, so genannte Bewegungsbaustellen zu schaffen, wo Kinder und Jugendliche ihre Fähigkeiten auch unbeaufsichtigt im Spiel erweitern können. Dabei müsse man Risiken, nicht aber Gefahren zulassen. Kinder sollen im Spiel ihre Grenzen erfahren und ausweiten können, zum Beispiel bei der körperlichen Betätigung (auf einen Baum klettern). Auf dem Spielplatz darf es aber keine Gefahrenquellen geben, die für die Kinder nicht erkennbar sind.

Das Spiel soll kreativ sein, die Benützung und allenfalls auch Zweckentfremdung von Materialien gehört ebenso dazu wie die Lust am Dreck. Erwachsene sollten sich nicht mit ihren Ideen einmischen, auch nicht, wenn es den Kindern einmal langweilig werden sollte (Langeweile ist erlaubt) oder wenn es in der Kindergruppe Krach gibt (Konfliktbewältigung muss man üben können).

Die Fachleute der Kommission, die auch den Bundesrat berät, empfehlen sogar, bewusst Planungsbrachen zu schaffen, ungenutzte Räume im Innern und im Freien für Kinder und Jugendliche zugänglich zu machen, damit die Jungen unbeobachtet spielen, sich bewegen und auch einmal lärmen können. Punkt 3.6 ihrer Empfehlungen: «Räume zum Herumhängen zulassen.»

Städtedesign versus Spiel-Raum
Was die Pädagogen als Ideal vorschlagen, war einst als Robinson-Spielplatz bekannt. Da herrscht ein bisschen Chaos, ein bisschen Dreck, ein bisschen Krach, ein bisschen Bastelei, viel Improvisation und wenig Perfektion. Die Kinder können ihre eigenen Vorstellungen realisieren und lernen dabei, mit sich selbst, mit ihresgleichen und mit der Umwelt umzugehen.

Im Städtebau sind derzeit solche in den Augen der Erwachsene unschönen Anlagen verpönt. Pärke und Anlagen werden durchgestylt, auch Zürich hat neue Parkanlagen, die Bewunderer aus der halben Welt anziehen, in denen Kinder aber nicht vorgesehen sind. «Die Kinderspielwelt hat im Moment keinen Platz, die Stadtgesellschaft will den Aussenraum so perfekt gestalten wie die Wohnung», sagt Susanne Karn, Professorin für Freiraumgestaltung an der Hochschule Rapperswil. Die Landschaftsarchitekten müssten immer mehr vermitteln zwischen den Anliegen der Erziehungswissenschaften, Kinder und Eltern in die Gestaltung eines Spielplatzes einzubeziehen, und den Ansprüchen der Stadtplanung, die grossen Linien im Stadtdesign zu wahren.

Hallenspielplätze sieht die Landschaftsarchitektin als Spielorte für besondere Anlässe. Im Alltag müsse der Spielplatz möglichst nahe bei der Wohnung liegen. Für Marco Hüttenmoser liegt da ein Hauptproblem: «Der Strassenverkehr ist so gefährlich geworden, dass viele Kinder nicht mehr unbegleitet zum Spielplatz gehen können.» Früher seien Höfe, Strassen und Plätze als öffentlicher Raum auch Kindern zur Verfügung gestanden, heute beherrsche der Verkehr die Wohnquartiere.

Die Erwachsenen, so stellen Soziologen und Psychologen fest, verhalten sich immer länger nach den Mustern der Jugend: Computerspiele, Risikosport, Freizeitparks, Mode, Sprache. Die Kinderwelt und die Erwachsenenwelt verschmelzen. Die Parents copains, die Eltern als Kumpel, sind schon fast die Regel, was es den Jungen schwer macht, eigene Welten zu schaffen. Durch Medien- und Konsumgewohnheiten werden zudem die Kinder immer mehr zu kleinen Erwachsenen – «Unreife Eltern, erwachsene Kinder», wie der Titel eines französischen Buches heisst.

Alles muss nützlich sein
Spielen erhält in der Gesellschaft einen anderen Stellenwert. Die Nützlichkeit kommt plötzlich ins Spiel: «Edutainment», so genannt spielerische Begegnung mit Wissenschaft und Technik oder Sport. Jugendfachleute sehen das mit gemischten Gefühlen: Sollen die Kinder mit Edutainment auch noch in der Freizeit schulisch gefördert werden? Was hilft Sport, wenn wie in der Schule allein die Leistung und nicht der Spass zählt?

Auch Kinder brauchen Freizeit, Freiraum und Bewegung, so die Kommission für Kinder- und Jugendfragen des Bundes. Leere Räume sind wichtiger als vorgefertigte Freizeitprodukte. Als Nächstes will die Kommission untersuchen, wie sich die sozialen Unterschiede bei der Freizeitgestaltung der Jungen auswirken. Eine berechtigte Frage. Wie es aussieht, werden die Kinderspiele der nächsten Generation vom Portemonnaie gesteuert.

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