Im Winter kann Brooklyns alte Amüsiermeile der stillste Platz New Yorks sein.Wem es im Winter schlecht geht in New York, der fährt mit der U-Bahn nach Coney Island. Jetzt hat man das schmale Strandtuch am südlichen Ende Brooklyns fast für sich. Wenn auch nie ganz – dazu ist es zu bizarr, zu faszinierend: ein Vergnügungspark mit dem Charme der Fünfziger, schäbig schön und ein bisschen melancholisch. Mit einer langen Holzpromenade für Jogger, Liebespaare und Rentner, mit Hotdog-Verkäufern, Anglern und Obdachlosen vor dem Skelett des alten Fallschirmturms, dem Wahrzeichen der ältesten Amüsiermeile Amerikas.
Mitte des 19. Jahrhunderts standen hier nur Luxushotels, die Familien blieben oft den Sommer über, zeigten sich im Schatten der weißen Veranden, in den Badehäusern am Strand, zwischen Geranien und gepflegtem Rasen. Detektive patrouillierten und sorgten im Naherholungsgebiet der reichen New Yorker für Sicherheit. Als 1865 die erste Eisenbahn die Halbinsel erreichte, tauchten am Strand immer mehr Mittelklassefamilien auf, der Ruf als snobistische Sommerresidenz ging verloren.
Als die U-Bahn schließlich jedermann für ein paar Cent hinbringt, entstehen Tattoosalons, Schießstände, Imbissbuden, Achterbahnen und Gruselkabinette für ein Massenpublikum. Der Strand wird „zur Zielgeraden eines wöchentlichen Exodus von der elementaren Gewalt eines Gefängnisausbruchs“, schreibt Architekt Rem Koolhaas 1978 in seinem Buch „Delirious New York“.
Meditieren am Strand
So ähnlich kann es heute noch sein, wenn sich an Sommersonntagen halb Manhattan und Brooklyn im Sand räkelt. Ghettoblaster dröhnen, am Strand entlang spazieren lebensgroße Plüschtiere, mit denen sich Kinder für zehn Dollar fotografieren lassen können. Ältere Männer ruhen in Klappstühlen, jüngere schreiten im Leuchttanga durch die Menge. Es ist, als hätte man den Inhalt der New Yorker Subway einfach am Ende ausgeleert.
Im Winter aber kann Coney Island der stillste Platz New Yorks sein. Der Strand ist leer, nur ein paar Fischer stehen am Pier. Eine Frau meditiert im Sand, ein Strandläufer übt Urschreie. Die Menschen ziehen sich ans äußerste Ende der Millionenstadt zurück, um der Hektik, der Überfülle an Ablenkung, dem Lärm zu entkommen. In der Dämmerung, wenn die Lichter in den Hochhäusern der Halbinsel langsam angehen, findet die urbane Seele Frieden auf den Holzplanken des Boardwalks, bei Möwengeschrei und leichtem Wellenschlag.
„Ich habe im Moment einen Durchhänger“, erzählt der grau gelockte Sänger einer New Yorker Independent-Band, elegant gekleidet, mit einer Dose Bier in der Hand und Schwitzflecken unterm Arm. „Alles ödet mich an. Ich nehme hier eine Auszeit.“ In der Hand hält er ein leeres Stück Papier, auf dem am Ende ein neuer Song stehen soll.
Das Riesenrad Wonder Wheel und Cyclone, die Mutter aller Achterbahnen, strahlen im Abendlicht. Der hölzerne weiße Rollercoaster ist älter als 75 Jahre, knarrt und ächzt, wenn die Wagen in die Senkrechte stürzen, Strand und Ozean sich drehen – eine rumpelnde Fahrt ins Nichts. Für einige ein perfekter Platz, um zu heiraten: Der Musiker Mike Lustig und seine Braut ließen sich von einem Rabbi in luftiger Höhe zu Mendelssohns Hochzeitsmarsch trauen. Selbst die tätowierte Achterbahncrew war gerührt.
Coney Island ist schrill, laut und billig, sagen die einen, in seiner brüchigen Schönheit verzaubernd, die andern. Ein Ort für Künstler, ein flirrender Schauplatz für Krimi-Melodramen, Okkult-Klassiker wie „Angel Heart“ oder Liebeskomödien wie Woody Allens „Annie Hall“; besungen von Van Morrison, Lou Reed und Tom Waits. Verlorene Kinder, nächtliche Liebespaare und badende Massen hat Wegee, New Yorks berühmtester Fotoreporter der Fünfziger, hier mit der Kamera eingefangen – das ungeschminkte Leben.
Kaviar und Zarenbrot
Coney Island war in Vor-Disney-Zeiten die spektakulärste der Schein- und Traumwelten, die Ende des 19. Jahrhunderts am Rande der Metropolen Europas und der USA entstanden. In „Dreamland“ machten eine Million Glühbirnen die Nacht zum Tage, Besucher amüsierten sich im „Luna Park“ bei simulierten Reisen zum Mond und liefen gaffend durch eine Liliputanerstadt. Männer ritten im „Steeplechase“ auf elektrischen Pferden, und im rotierenden „Barrel of Love“ ließen sich Männlein und Weiblein durcheinander purzeln.
Im Mai 1911 gibt es einen Kurzschluss, Dreamland brennt in drei Stunden komplett nieder. Redakteure der New Yorker Zeitungen melden das Unglück erst 24 Stunden später – sie hatten den Rauch, den sie von ihren Schreibtischen sehen konnten, für eine gut inszenierte Show gehalten. 1914 geht auch „Luna Park“ in Flammen auf. Danach wird ein Großteil von Coney Island renaturiert.
Heute ist es beides: Rückzugsort der glücklich Gestrandeten und Strand der Verlorenen. Alte Leute in dicken Pelzen, Sonnenbrillen und Fellmützen sitzen auf den Bänken, plaudern, spielen Schach oder lesen ein Buch. Viele sind Russen, fast eine Viertelmillion ehemaliger Sowjetbürger lebt im Zentrum von Coney Island, in Brighton Beach und Little Odessa; darunter viele Juden, emigriert in diversen Flüchtlingswellen. Die Cafés verkaufen Mischka-Konfekt und mehrstöckige Cremetorten, der M & I International Supermarket führt Kaviar und Zar-Nikolaus-Brot. Selbst eine koschere Fitnesshalle gibt es und einen elektrischen siebenarmigen Leuchter im U-Bahn-Bereich.
Richtig gefeiert wird am Wochenende in den Nachtclubs von Brighton Beach. Der eleganteste ist das „Rasputin“: mit Doorman, rotem Teppich und 90 Dollar Mindestverzehr pro Kopf am Wochenende. Dafür werden hundert Wodkasorten aus aller Welt serviert. Im Saal kreisen die Flaschen, riesige Büfettschalen werden herumgereicht, von der Decke hängen Kunstblumen und Kristallleuchter. Draußen rauchen Elfjährige ihre ersten Zigarren, Kellner mit quadratischer Statur servieren alternden Familienbossen Piroggen, Blinis und Meeresfrüchtesuppe im Brot. Gäbe es eine Fortsetzung des „Paten“, hier würde man bei der Komparsensuche fündig.
Selbst die Taxifahrer hier haben filmreife B.iografien. William mit den Rastalocken zum Beispiel war früher Kickboxer und hat jetzt mehrere Jobs gleichzeitig. Er arbeitet als Hilfscop des New Yorker Police Departments und am Wochenende als Türsteher in einem Nachtclub. Bei Wartezeiten im Cab schreibt er an einem Drehbuch für ein Off-Broadway-Stück. Keiner kennt die Sprache der Blocks von Coney Island so gut wie er.
Früher war die Halbinsel die Künstlichkeit in Perfektion, heute scheint sie ein Ort, an dem man sich nicht viele Illusionen leisten kann, ein Sammelbecken derer, die in New York von unten beginnen. Menschen wie die 50-jährige Rosa Rodriguez, die bei einem reichen Radiologen arbeitet. Für 90 Dollar wischt sie das Parkett in seinem 4000-Dollar-Loft und staunt manchmal über die Sorglosigkeit ihres Arbeitgebers.
Mit einem Rucksack fliegt der Arzt für sechs Wochen nach Europa – und einer Kreditkarte, die alles regelt. In Coney Island, weiß sie, muss man planen, das Geld zusammenhalten. Dann kommt man vielleicht weiter und irgendwann weg von hier. Wenn man denn will.
Foto: Arne Weychardt/images.de
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