18. Juni 2007, Neue Zürcher Zeitung
Naturkundeunterricht im Vergnügungspark
Gemeinsames Projekt von Europa-Park, Ministerium und WirtschaftIm Europa-Park ist ein Science-House eröffnet worden, das Kinder an die Naturwissenschaften heranführen soll. Partner sind der Europa-Park, ein Förderverein, die Regierung und Sponsoren aus der Wirtschaft.
«Woraus bestehen denn Seifenblasen?» fragt Joachim Lerch in die Runde. «Aus Seife», antwortet Nadia wie aus der Pistole geschossen. Die Sechstklässlerin aus Uster sitzt zusammen mit ihren Mitschülern sowie weiteren Kindern im Halbkreis um Lerch herum und lässt sich in einer kleinen Show in die Welt der schillernden Blasen einführen. Die Schüler aus dem Zürcher Oberland und ihre Lehrerin sind als Testpublikum in das im März 2007 eröffnete Science-House des Europa-Parks in Rust eingeladen und geniessen nun einen ganz besonderen Schultag. Sie lernen, dass Seifenmoleküle quasi zwei Hände haben. Die eine greift an die Wassermoleküle, während sich die andere an den Schmutz krallt. Die Kinder erfahren etwas über Oberflächenspannung und eckige Seifenblasen. Sie lernen, dass die Blasen wegen der Verdunstung des Wassers in ihrer Hülle so vergänglich sind. Alexander darf mit einem Strohhalm «Babies» in eine der bunt schillernden Kugeln pflanzen, und Chiara lässt sich von «der grössten Seifenblase der Welt» umhüllen: Das ist Naturkundeunterricht, der auch den ärgsten Schulmuffel in seinen Bann zieht.
Spielerische Wissensvermittlung
Das spielerische Vermitteln von Wissenschaft und Technik sei das Ziel des Science-House, erklärt dessen Leiter Joachim Lerch. Der 50-jährige Physik- und Mathematiklehrer ist Leiter der Arbeitsgruppe Science- und Technologie-Center des baden-württembergischen Ministeriums für Kultur, Jugend und Sport, Vorsitzender des von Politik und Wirtschaft getragenen Fördervereins Science und Technologie sowie Mitgründer und erster Präsident des Dachverbands europäischer Science Festivals. Die Heranführung von Kindern und Jugendlichen an die Naturwissenschaften liegt dem fünffachen Vater am Herzen. Diese Materie gelte gemeinhin als unzugänglich und kompliziert, mit der Folge, dass sich wissenschaftliche Institutionen und auch Unternehmen zunehmend über fehlenden Nachwuchs beklagten. «Dabei ist es gar nicht schwer, Kinder für naturwissenschaftliche Fragen zu begeistern. Wenn man sie selber experimentieren lässt und ihnen Aha-Erlebnisse vermittelt, nehmen sie das Wissen auf wie ein trockener Schwamm und vergnügen sich sogar dabei.»
Technik und Vergnügen sind auch die Domänen von Roland Mack, studierter Maschineningenieur und Chef von Deutschlands grösstem Freizeitpark in Rust bei Freiburg. Im Rahmen des ersten Science Festivals 2000 in Freiburg trat Mack an Lerch heran und fragte, ob er sich wissenschaftliche Veranstaltungen für Kinder und Jugendliche im Umfeld eines Freizeitparks vorstellen könnte. Das konnte Joachim Lerch sehr wohl. In der Folge organisierte der von ihm geführte Förderverein Science Days für Schulen und Familien im Europa-Park. Jahr für Jahr kamen mehr Besucher, und so wurde der Bau des Wissenschaftshauses mit 76 interaktiven Exponaten auf rund 1000 Quadratmetern Fläche beschlossen. Mehrere grosse Industrieunternehmen, unter ihnen der Schweizer Novartis-Konzern, liessen sich als Sponsoren gewinnen. Auch die Europäische Union schoss Mittel ein, und die Schirmherrschaft über das Science-House liegt bei der Bundesbildungsministerin Annette Schavan sowie beim baden-württembergischen Kultusminister Helmut Rau.
Finanziell kein lohnendes Geschäft
«Es geht nicht darum, mehr Leute in den Europa-Park zu locken. Das war weder die Idee unseres Fördervereins noch das Ziel der Familie Mack», betont Lerch, der seinen Lohn nach wie vor als Angestellter des Kultusministeriums verdient, ebenso wie eine zweite Lehrerin, die im Science-House arbeitet. Die naturwissenschaftlich ausgebildeten Demonstratorinnen und Demonstratoren, die den Kindern den Umgang mit den Experimenten erklären und für Fragen zur Verfügung stehen, werden vom Europa-Park bezahlt. «Geld wird mit dem Science-House niemand verdienen. Wenn wir Ende Jahr mit einer schwarzen Null dastehen, sind wir zufrieden.» Dies werde nur möglich sein, weil man bei technischen Arbeiten und Reparaturen auf das Personal des Parks zurückgreifen könne.
Das alles kümmert die Kinder indes wenig. Nach der Seifenblasenshow wuseln sie durch die beiden Etagen mit Stationen von der Lawinenkunde (in Zusammenarbeit mit dem Davoser Institut für Schnee- und Lawinenforschung erstellt) über Tsunami- und Erdbebensimulationen und angewandte Robotik bis hin zu den Hirnfunktionen, der Sexualaufklärung oder den forensischen Wissenschaften. Dana, Ada und Viola betrachten durch 3-D-Brillen vieltausendfach vergrösserte Nadeln von Vitaminen, kantige Blöcke von Zyankali und Fadenknäuel menschlicher Chromosomen, während an der Station daneben Jonathan, Fabio, Attila und Oscar mit Pfefferminzöl, Alkohol und Zucker Pfefferminzbonbons herstellen. Lisa, Malina und Linnéa experimentieren mit Wasser, Öl und Tinte, und Tobias, Andrea, Demokrat und Denton studieren durch Mikroskope Haarfollikel und Lungengewebe.
Die Achterbahnen locken
Nach gut zwei Stunden allerdings drängen die Kinder auf den Aufbruch. Silver Star, Euro Mir und die anderen Attraktionen im Europa-Park - und damit die mit allen körperlichen Sinnen spür- und erfahrbare angewandte Physik - locken. Aber während der abendlichen Busfahrt zurück in die Schweiz sind nicht nur waghalsige Ritte auf Achterbahnen Gesprächsthema, sondern auch manche Exponate des Science-House. Jonas will sogar selber einen Würfel löten, mit dem er viereckige Seifenblasen machen kann. Grossen Eindruck gemacht haben auch der in Querschnitte aufgefächerte menschliche Torso, die Modelle der Entwicklung eines menschlichen Fötus und natürlich die kriminaltechnischen Apparate zur Erkennung von falschen Geldscheinen oder von Fälschungen in Ausweisen und amtlichen Dokumenten. Wie leicht ein getürktes Zeugnis aufgedeckt werden kann, hat die Schüler besonders verblüfft. Und die Lehrerin bestätigt anerkennend, dass das Science-House eine tolle Sache sei. So etwas habe sie in einem Freizeitpark wirklich nicht erwartet.
www.science-house.de. Eintrittspreis 5 bzw. 7 Euro; Kombitickets mit dem Europa-Park sind erhältlich. Am 26. und 27. Juni finden spezielle Science Days für Kinder statt.
Quelle: NZZ.ch