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Beitrag Nr.: 5049
#0, Der Achterbahn-Kick für den Augenblick
Geschrieben von jwahl am 07-Jan-04 um 11:01 Uhr
Von der Jugendseite des Wiesbadener Kurier, ist der Autor hier zufällig selber vertreten?

Hochrot bis kreidebleich
Der Achterbahn-Kick für den Augenblick ist gleichzeitig Vergnügen und Qual

Vom 07.01.2004

Für die einen sind sie purer Nervenkitzel, für andere die reinsten Höllenmaschinen, für Ingenieure technische Wunderwerke aus Holz und Stahl. Jährlich werden 100 Achterbahnen gebaut - dem Wahnsinn sind kaum Grenzen gesetzt. Es soll immer einen Tick höher und schneller gehen.
Von JuLe-Redaktionsmitglied Henning Kunz

Gregg kennt den Ausdruck in den Gesichtern, die Blicke. Er kann sich denken, was in den Menschen vorgeht, wenn er ihnen die Gurte anlegt, welche Ängste sie empfinden, Bedenken sie haben, ehe sie sich ins Vergnügen stürzen, und ob das rasante Vergnügen im Nachhinein tatsächlich eines für sie war, oder vielmehr eine Qual, selbst wenn sie nur ein paar Sekunden andauerte.

Millionen Gesichter: hochrot bis kreidebleich. Grüne Männchen seien des öfteren auch darunter. Grün, glasklar, was Gregg damit ausdrücken will: "Denen ging es nach der Fahrt nicht so gut. Haben vielleicht vorher ´nen Hamburger mit Fritten verdrückt. Aber jeder muss selbst wissen, was er sich antut." Und überhaupt gilt in der Achterbahn: Jeder fährt auf eigene Gefahr - gezwungen wird niemand. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt, den Achterbahn-Ingenieur ihres Vertrauens - oder Gregg.

Der 19 Jahre alte Student jobbt gelegentlich in Orlandos Freizeitpark Sea World, verdient sich als "Ride Operator" der Achterbahn "Kraken" ein paar Dollar, die nicht der Rede wert seien, sagt er. Seine Aufgabe sei nicht gerade das, was er als Herausforderung bezeichnen würde. Eher langweilig, wie er findet, weil immer dasselbe. Ein Fließbandjob ohne Anspruch, "jedoch immer noch besser, als bei Wendys Burger zu wenden".

Die Achterbahn rollt in den Bahnhof, die mal mehr, mal weniger gestressten Fahrgäste steigen aus, torkeln in Richtung Ausgang, die nächsten nehmen in den acht Viererreihen Platz, Gregg und seine drei Schicht-Kollegen bemühen die Schulterbügel, kontrollieren die Gurte - einmal am Tag sitzt er für ein paar Stunden in der Schaltzentrale oberhalb der Schienen und setzt per Knopfdruck die Bahn in Bewegung, wenn die "Operators" ihre Daumen in die Luft strecken. Ab geht´s, und obwohl die Passagiere bangen Blickes auf die Schiene starren, können sie´s kaum abwarten, bis "Kraken" mit über 105 Sachen das erste Mal im freien Fall 40 Meter in die Tiefe stürzt. Früher sei er auch so gewesen, "heiß auf den Thrill", sei die Coaster acht Mal hintereinander gefahren. Immer und immer wieder. Heute sieht er den Spaß mit anderen Augen. Achterbahn, das ist für ihn nicht mehr Adrenalin und der Kick für den Augenblick. Was also dann? "Schulterbügel, Gurt, Daumen hoch, Abfahrt!"

Langsam rollt "Kraken" aus dem Bahnhof heraus, die Füße der Fahrgäste baumeln in der Luft, eine leichte Rechtskurve, dann geht´s in die Höhe. 46 Meter in 40 Sekunden, wenig Zeit, um den Ausblick zu genießen. Genießen ist in diesem Augenblick das falsche Wort, das Kribbeln in der Bauchgegend ist ausgeprägter, die Gedanken sind ein Stück weiter, beschäftigen sich mit dem, was nach diesem Anstieg kommt: Drei Sekunden freier Fall, der erste Looping, dem sechs weitere Überschläge folgen, eine rasante wie ruckartige Fahrt, bei der der Kopf wie ein Ping Pong-Ball gegen die Schulterbügel schlägt - doch letzteres nimmt man kaum noch wahr. Adrenalin schießt durch den Körper, beflügelt und fasziniert, steigert das Verlangen nach mehr. Noch eine Fahrt, noch mehr Loopings, noch mehr Nervenkitzel.

Rekord jagt Rekord - neue

Superlative entstehen. Der Kunde ist König. Und "Eure Hoheit" verlangt nimmersatt nach spektakuläreren Attraktionen, größeren Sensationen, Neuheiten. Die Freizeitparkbetreiber lassen sich nicht zweimal bitten, liefern sich seither untereinander einen Wettkampf. Kaum hat SixFlags die erste hängende Achterbahn (Sesselliftverfahren) auf den Markt gebracht, lässt Universal zwei Achterbahnen miteinander duellieren (beide Züge starten zeitgleich auf parallel verlaufenden Strecken), derweil Disneys "Rock´n´Roller Coaster" mit mächtigem Tempo durch eine stockfinstere Halle düst. Ein Rekord jagt den nächsten, jagt den nächsten und so weiter, neue Superlative entstehen, denn solche lassen sich schließlich am besten vermarkten, die Grenze des Zumutbaren scheint noch lange nicht erreicht.

Zumindest aber mal haben die Schweizer Achterbahnbauer der Firma Intamin Amusement im Mai vergangenen Jahres mit ihrer neuesten Konstruktion jede andere Stahl-Achterbahn in den Schatten gestellt. Der "Top Thrill Dragster", im Cedar Point-Park in Sandusky (Ohio) zu Hause, ist der mit Abstand schnellste (193 Stundenkilometer) und höchste (128m) Rollercoaster auf Erden. Für diesen Luxus blätterten die Bosse des Freizeitparks satte 25 Millionen Euro hin. Im Vergleich: Gut die Hälfte kostete das Prunkstück des Europaparks in Rust, der Silver Star, der rund 1800 Personen die Stunde mit bis zu 130 Stundenkilometer transportiert.

Der Größenwahn, davon kann man stark ausgehen, wird weitergehen. Manche Fahrgäste werden sich begeistert und beschwingt von der ersten Fahrt für eine Zugabe anstellen, andere kreidebleich, aber erleichtert ein Stoßgebet sprechen und schwören, sich nie wieder in eine solche Höllenmaschine zu setzen. Und dann sind da noch jene, die mit den Folgen des Nervenkitzels zu kämpfen haben: Greggs grüne Männchen.