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Foren-Name: Tagesberichte & Fotoserien
Beitrag Nr.: 3689
#0, 35 Tage Israel
Geschrieben von Substitute am 05-Jan-10 um 18:23 Uhr
35 Tage Israel

Der Himmel draußen über Jerusalem ist grau und die Stadt wirkt träge. Nach zwei Wochen Sommer ist das Wetter heute eher herbstlich und ich genieße den ersten Schreibtisch während meines Israel-Aufenthalts. Heute ist Tag Nummer 15. Ein guter Tag, um mal daheim zu bleiben, Musik zu hören und ein bisschen aufzuschreiben. Ich sitze im Zimmer eines 23jährigen Informatikers, bei dem ich für 3 Tage wohnen darf. Morgen geht es weiter.

Warum ich in Israel bin, kann ich nicht genau sagen. Es ist vielleicht eine Mischung aus der Ästhetik, die dieses Land ausstrahlt, dem Bedürfnis, sich jenseits aller Zeitungsartikel ein eigenes Bild zu erarbeiten und der Tatsache, dass sich Google Earth vor 2 Monaten über Israel aufgehangen hat und mich dieses Bild einen Rechner-Neustart lang belästigt hat.

Nun bin ich hier und möchte die 35 Tage von 500 Euro leben. Notfalls 600, was angesichts der hohen Nahrungspreise immer wahrscheinlicher wird. Und ich möchte so dicht wie möglich an das Land herankommen, den nichttouristischen Moment erleben und mich unauffällig unter Israelis tarnen.

Dieser Text ist eine rohe Reisenotiz und beansprucht keinen literarischen Wert. Es ist mehr der Stream-of-Consciousness einzelner Momente.

Auf geht's.


#1, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von Substitute am 05-Jan-10 um 18:27 Uhr

22. Dezember ~ Ben Gurion Airport

Die Ankunft am 22.12. war so, wie man sie sich vorstellt. Ein Klima, das einen aus der Kurve trägt. Eine Passkontrolle mit den typischen Fragen („Wen besuchen Sie?“, „Was denken Sie über Israel?“, „Haben Sie ein Maschinengewehr dabei?“), ein Gewirr aus dreisten Taxifahrern, Bettlern in Bahnhofsnähe und dem miesen Gefühl, den großen Rucksack und die Offensichtlichkeit eines Touristen ablegen zu müssen. Gleichzeitig ein sommerlicher Geruch, lebendige Straßen, unbekannte Pflanzen und eine unendliche Neugier. Das Bedürfnis, hier "anzufangen" und irgendwo das erste Gespräch zu führen.

Mein erster Gesprächspartner war ein im höchsten Grade christlich erleuchteter wie unangenehmer Amerikaner, der von seinen Eltern zum College-Abschluss geschenkt bekommen hatte, über Weihnachten für 3 Tage Jerusalem und Bethlehem zu besuchen. Er hatte zig Stunden Flug hinter sich und schwitzte eine Mischung aus Diätcola und Dümmlichkeit. Zwei Tage später würde er auf dem Christuspfad einen Nervenzusammenbruch erleiden. Bis zu diesem Zeitpunkt jedoch Twix essen.

Den Abend habe ich in Tel Aviv am Meer gesessen, alleine. Neue Luft, Flugzeuge im niedrigen Landeanflug über der Stadt und Meeresrauschen. Danach die Übernachtung in der Jugendherberge im Norden der Stadt. Teuer zwar, aber für die ersten 3 Nächte in Ordnung, wenn ich die restliche Reise ohne Jugendherberge auskommen würde.

Und dann der erste Morgen...


#2, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von Substitute am 05-Jan-10 um 18:32 Uhr

23. Dezember ~ Der erste Tag in Tel Aviv

Der erste Morgen war ein unglaublich schöner. Einen Tag vor Weihnachten war es morgens und mittags knapp 30 Grad warm und die Stadt hatte einen Geruch von Pflanzen, wie ich ihn in Deutschland selbst im Frühjahr selten wahrnehme. In den Pflanzengeruch mischten sich abgeriebener Reifen, Teer und Benzin.

Meine erste Begegnung des Tages ereignete sich innerhalb von einer Stunde. Am Strand fragte mich eine Äthiopierin nach einer Zigarette. Die hatte ich zwar nicht dabei, aber Gesellschaft gefunden. Nach einem Strandspaziergang trafen wir kurz vor dem arabischen Hafen von Yaffo weitere Sephardin-Juden aus Afrika. Wir saßen mit einer größeren Gruppe im Sand. Die Alten versuchten mir mit einer Mischung aus Englischfetzen und Hebräisch zu erklären, dass sie mit einem Polizisten befreundet seien, der heute Stranddienst habe und es darum vollkommen ungefährlich sei, gemeinschaftlich zu kiffen. Und so geschah es.

Einer von ihnen hatte ein Notebook dabei, das als abgenutzter Gebrauchsgegenstand die Runde machte. Zwei athletische aber offensichtlich sehr alte Sephardins versuchten gemeinsam mit der Äthiopierin, das Internet zu öffnen, um mich bei Facebook zu adden.
"Just in case".

Dass man für Internet ein Kabel oder eine Wireless-Verbindung benötigt, war ihnen fremd. "A good good friend of mine has also. And him computer do also internet. Yalla!" - Ich unterbrach sie nicht in ihrem aussichtslosen Unterfangen, sondern rauchte mit der Äthiopiern das stärkste Haschisch meines Lebens, was einen munteren Auftakt in Israel bescherte.

Am Nachmittag liefen wir nach Yaffo und bekamen in einem arabischen Restaurant, das sich noch im Bau befand (keine Einrichtung, sondern nur Mörtel und Staub) auf dem Boden ein afrikanisches Gericht zubereitet. Dieses Gericht, das wir anschließend mit den Händen aus einer flachen Schale aßen, hätte ich ohne den Joint nicht essen können - die Dramaturgie des Tages ergab also Sinn.
Ein dunkler Brei aus Allerlei wurde mit Fladenbrot vom Teller gerieben, dazu gab es Sesampaste und Hummus. Das Schönste am Tag war das Gefühl, irgendwo in der Welt ankommen zu können und mit der nötigen Offenheit sofort Anschluss zu finden. Das Pflaster des Tourismus war verlassen.

Nach dem Essen kletterten wir auf einen Hügel direkt über dem Hafen. Idyllische Ferne und unten der Lärm von Fischern, die die letzten zuckenden Fische mit einem Spaten flach schlagen.
Dazu einige Straßen weiter der Gesang eines Muezzins. Der Schall seines Gesangs bedeckte ganz Yaffo. „Shut up! ##### you!“ entfuhr es meiner Begleitung genervt, die, obwohl mit vielen Arabern befreundet, ein säkulares Stadtbild bevorzugen würde.

Der Hügel über dem Hafen war leergefegt. Kurz bevor wir gingen, wollte mir die Äthiopierin noch ein Tattoo zeigen. Ihr Tattoo. Ich fand mich unter Palmen wieder, studierte vergnügt das Tattoo und dahinter schäumte das Meer.

Israel hatte mich freundlich in Empfang genommen.


#3, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von rixmagic am 05-Jan-10 um 19:21 Uhr

... und was passierte dann?
Weiter ... Spannend!

#12, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von Pete am 11-Jan-10 um 13:58 Uhr

>Und so geschah es.

Herzlichen Glückwunsch...


#4, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von Kuggy am 06-Jan-10 um 00:53 Uhr

>Dieser Text ist eine rohe Reisenotiz und beansprucht keinen literarischen Wert.

Sehe ich anders. Bloß weiter machen, sehr interessant!


#5, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von DragonKhan am 06-Jan-10 um 01:51 Uhr

>>Dieser Text ist eine rohe Reisenotiz und beansprucht keinen literarischen Wert.
>
>Sehe ich anders. Bloß weiter machen, sehr interessant!

*signed*

The only difference between genius and insanity is success.
Gruss, DragonKhan


#6, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von Looping Star am 06-Jan-10 um 08:32 Uhr

Hi,

freut mich das Du hier eine Liveberrichterstattung machst. Am Ben Gurion, bist du als allein reisender bärtiger bestimmt in alle Raster gefallen *g*
Ich wünsche Dir viel Spaß und freue mich auf weitere Berichte.


#7, 24. Dezember
Geschrieben von Substitute am 06-Jan-10 um 12:44 Uhr

Letzte Bearbeitung am 06-Jan-10 um 12:46 Uhr ()

24. Dezember ~ Weihnachten mit UN-Voluntär aus Chicago

Der Vortag war mit Fruchtsaft am Strand gemütlich ausgeklungen. Den Weihnachtstag verbrachte ich, ohne mich tagsüber daran zu erinnern, dass Weihnachten war. Ich ließ mich durch die Stadt treiben und genoss es, mich von Bazarhändlern einlullen zu lassen, denen ich ohnehin nichts abkaufen würde – heute jedenfalls nicht.

Abends traf ich in der Dormitory einen Amerikaner. Seine geschiedene Frau samt Kindern saß in Chicago - er hielt eine weihnachtliche Skype-Session vom Bett aus mit ihnen ab. Er hatte sich wenige Wochen zuvor in eine Israeli verliebt und saß nun etwas unruhig zwischen zwei Welten. Der rationalen Verbindung nach Amerika und der emotionalen hier in Israel.
Die Weihnachtssituation habe ihn in die Jugendherberge getrieben, sagte er mir, unter Vorwänden gegenüber der israelischen Freundin. Er wusste, dass er sich aus der Ferne zumindest um die Kinder kümmern müsse – das Verhältnis zur ehemaligen Frau war freundschaftlich aber abgekühlt. Ich lag auf meinem Bett und las, während er mit seiner Familie sprach und meine Anwesenheit nicht unangenehm fand. - „Dann hab ich jemanden, mit dem ich hinterher drüber sprechen kann.“

Zwischendurch lief ich ins Foyer und erledigte wiederum meine Weihnachtskommunikation. Meine Gespräche waren schneller erledigt als die des Amerikaners. Immerhin nimmt in meinem Umfeld niemand Weihnachten sehr ernst. Irgendwann jedoch war auch mein Roommate fertig, klappte sein Notebook zu und ließ sich rittlings ins Bett fallen.

Es ist immer schwierig, Gespräche mit solchen Reisebekanntschaften festzuhalten. Sie alle haben etwas gemeinsam, diesen resümierenden Klang, Lebensgeschichten im Kurzformat. Man findet sie vor allem in den Dormitorys von Jugendherbergen, auf den wöchentlichen Treffen der Individualreisenden in großen Städten und einige liegen narkotisiert mit Gitarre auf Parkbänken.
Die Geschichte des Amerikaners: Politik und Erdkunde auf Lehramt studiert, Familie gegründet, dem Alkohol verfallen, Kontakte abgebrochen, 3 Jahre obdachlos in Brooklyn, Entzugsklinik, Hilfe durch Schulfreunde, wieder auf die Beine gekommen, soziales Engagement, Voluntär für UN-Projekte. Vor Israel war er in Kenia.

Wir redeten bis in die Nacht. Irgendwann kam als Dritter noch ein Reisender aus Kasachstan auf das Zimmer, aber er sprach kein Englisch.

Weihnachten war vorüber.


#8, RE: 35 Tage Israel
Geschrieben von The Knowledge am 06-Jan-10 um 14:20 Uhr

Du kannst wirklich gut schreiben, Jens. Ich schmecke zwar einen latenten "ich bin cool, weil ich anders bin"-Unterton heraus, den ich nicht mag ... aber vielleicht liegt das auch an mir.

Auch finde ich die herrlich-alltäglichen Fotos ganz wunderbar. Aber ich will mehr davon! Hast du so wenige gemacht, weil du nicht als gewöhnlicher Tourist erscheinen wolltest?

Grüße,

Tim
Excess all Areas!


#9, YERUHAM
Geschrieben von Substitute am 09-Jan-10 um 17:07 Uhr

Letzte Bearbeitung am 09-Jan-10 um 17:12 Uhr ()
25. – 30. Dezember ~ Tage und Nächte in Tel Aviv
Jetzt ~ Yeruham im Negev

Da ich inzwischen an einem völlig anderen Ort gestrandet bin, der um einiges interessanter ist, springe ich vorerst. Ich liefere Fotos. In Kürze. Die meiste Zeit habe ich in Tel Aviv, Haifa und Jerusalem verbracht. Dazu Fotos, Texte und Angebereien in Kürze.

Allerdings bin ich seit 2 Tagen an einem dermaßen anderen Ort, dass ich gerade emotional wenig über die vorausgegangenen Städte zu sagen habe.

Ich bin in Yeruham gelandet, bei Google Earth transkribiert als „Jerocham, Israel“. Und ich liebe die Wüste. Wie lange ich tatsächlich hierbleibe, weiß ich nicht. Aber mein erster Impuls ist: Hier bleibe ich.
Yeruham ist ein anekdotischer Ort – bekannt für seine abgeschiedene Lage und laut Wikipedia / Google gleichzeitig Inspiration und Drehort für den Film „Am Ende der Welt, links“.

Yeruham hat eine zentrale Straße mit Bank, Supermarkt und Schule, daneben befinden sich Siedlungen. Ich befinde mich in einer reinen Studentensiedlung ("desert studies"), deren Bungalows die Studenten selber aufgebaut haben. Mit Sammelwassertanks auf den Dächern und sehr isolierter Infrastruktur. Das Internet wird angeblich über das angehangene Desert-Forschungszentrum an das Dorf angeschlossen. Wenig östlich von hier befindet sich Israels Nuklear-Forschungsstützpunkt in der Wüste.

Empfangen wurde ich hier wie ein Ufo, ein exotisches Ereignis, das Dorf war von meiner Gastgeberin informiert. Im Gegensatz zu den Großstädten ist es hier auf ruhigere Art sehr angenehm gemeinschaftlich. Die Älteren im Dorf übernehmen Kinderpatenschaften und leben Kibbutz-ähnlich. Die Türen sind nicht abgeschlossen, das Eigentum ist zur Benutzung freigegeben, ein idyllischer Zustand, der in solch kleinem Kosmos funktioniert. Abends sitzt man auf einem Plateau mit weitem Blick, isst, spielt Gitarre und verhält sich notgedrungen inzestuös.

Am ersten Morgen war ich eingeladen, einem Fest der Grundschule beizuwohnen, welches die Älteren ausrichten. Im Vergleich zu Deutschland kann man jedem Kind nur wünschen, in der Wüste zu lernen. Freundlich, liebevoll und familiär.

Es ist ein tolles Erlebnis, zu sehen, wie Studenten hier in der Wüste ein Leben führen, mit starker Gemeinschaft und einer bescheidenen Romantik im Nichts. Letzte Nacht sind wir in klappernden Volvos durch die Wüste in die Nähe von Sde Boquer gefahren, wo ein Pub mit angehangener Lagerhalle zum Tanzen einlädt.
Wir fuhren um Mitternacht in Yeruham ab. Aus dem Radio fetzte laut die Plug’n’Play-Romantik in die Weiten… „Lay Lady Lay“. Und die Straßenschilder warnten „Attention: Camels crossing“.
Es ist unglaublich, sich dessen gewahr zu sein, was auf dieser Welt alles zeitgleich passiert. Ich werde nie wieder in einen deutschen Pub laufen können, ohne daran zu denken, dass im selben Moment Leute auf andere Weise zu ihrem Bier gelangen: Mit dem Volvo durch die Wüste. Dabei sind die Temperaturen jetzt, Anfang Januar, übrigens sehr wechselhaft je nach Tageszeit. Mittags 30-35 Grad, manchmal 40. Nachts ca 5-10 Grad.

Im endlosen Geröll des Negev gab es dann die Nacht hindurch ein Tanz- und Trinkgelage, das aufgrund seines Ortes rührend ist. Eine Landjugend, wie sie nicht isolierter wohnen könnte, Frauen in legeren Schlabberpullis, keine großen Allüren, ein Ort zum Wohlfühlen. Zurückkehren nach Europa wird hart.


Blick aus dem Küchenfenster eines Bungalows


Schulhof


#10, RE: YERUHAM
Geschrieben von WP am 09-Jan-10 um 17:28 Uhr


Faszination Wüste!

Ich kann dich gut verstehen. 1984 war ich einen Tag lang in einem ägyptischen Dorf. Südwestlich von Kairo inmitten der Wüste, ohne Strom, Wasser nur vom Brunnen. Am Nachmittag sind wir dan stundenlang auf Eseln oder zu Fuß durch die Wüste gestreift. Seitem schätze ich sie auch sehr!


#11, RE: YERUHAM
Geschrieben von jwahl am 09-Jan-10 um 23:32 Uhr

Filmempfehlung: Die Band von nebenan.

Weitermachen, toll
Jakob