Hamburger Abendblatt, 01. 12. 2001Madame Tussaud kauft den Heide-Park Soltau
Die Briten sind berühmt für ihr Wachsfiguren- kabinett. Doch dahinter steckt viel mehr.
Von Eggert Schröder
London/Soltau - Nach zweihundert Jahren im englischen Exil kehrt Madame Tussaud nun auf den Kontinent zurück: Die Tussaud-Gruppe übernimmt in Soltau den Heide-Park. 320 Millionen Mark sollen die Briten für den 1978 von Hans-Jürgen Tiemann gegründeten Heide-Freizeitpark gezahlt haben. "Der Kauf zeigt unser Engagement, eine internationale Gruppe erstklassiger Freizeitparks aufzubauen", sagt Peter Phillipson, der Vorsitzende des Unternehmens.
Wohl kaum hätte sich die 1761 in Straßburg geborene Marie Grosholtz träumen lassen, dass sich ihre Wachsfigurenkirmes einmal zum größten europäischen Unternehmen für Freizeitattraktionen entwickeln sollte. Beim Berner Arzt Philippe Curtius hatte die junge Elsässerin das Abnehmen und Modellieren von Wachsmasken erlernt. Schnell erkannte Curtius die außergewöhnliche Begabung und das phänomenale optische Gedächtnis seines Schützlings. Das ungleiche Gespann zog nach Versailles, wo Marie auf Vermittlung der Schwester des Königs am Hof eine Stellung als Kunstlehrerin annahm.
Doch die Französische Revolution machte das zunächst einträgliche Geschäft mit Wachsfiguren zu einem eher makabren Business. Curtius und Marie mussten bald im Auftrag der Jakobiner Totenmasken von Marie-Antoinette anfertigen. Als Curtius 1794 starb, heiratete die noch junge Marie den Ingenieur François Tussaud. Dieser entpuppte sich schnell als Schürzenjäger. Marie Tussaud ließ ihren Mann, der obendrein das Geld zum Fenster hinauswarf, sitzen und zog mit ihrer inzwischen stattlichen Wachsfigurensammlung nach England. 33 Jahre tingelte sie über Jahrmärkte, bevor sie ihrem Panoptikum in der Londoner Marylebone Road ein permanentes Heim einrichtete. Dort saß die geschäftstüchtige Französin die letzten zehn Jahre ihres Lebens jeden Tag selbst an der Ladenkasse. Das war einmal. . .
Im Oktober 1998 wechselte die Tussaud-Gruppe zuletzt den Besitzer. Der Mediengigant Pearson, Herausgeber der "Financial Times", verkaufte für 1,12 Milliarden Mark sein Portfolio schaustellerischer Attraktionen an die Investmentkapitalfirma Charterhouse Development Capital. Zur Tussaud-Gruppe zählen neue Wachsfigurenkabinette, die unter der Regie von Charterhouse in Hongkong, Las Vegas und New York eröffnet wurden, das Londoner Planetarium, das mittelalterliche Schloss Warwick, die Freizeitparks Chessington und Thorpe im Süden Londons, das Millennium-Wheel-Riesenrad an der Themse sowie Alton Towers.
Alle sieben Attraktionen der Tussaud-Gruppe ziehen 14 Millionen Besucher pro Jahr an.
Einzelne Bestandteile der Gruppe werfen extrem hohe Renditen ab. Das Londoner Wachsfigurenkabinett macht beispielsweise bei einem jährlichen Umsatz in Höhe von 342,4 Millionen Mark einen Gewinn von 112 Millionen Mark. Auch die Freizeitparks gelten als rezessionssicheres Geschäft, verlangen jedoch immer wieder sehr hohe Investionen, um nicht die Gunst des immer anspruchsvoller werdenden Publikums zu verlieren. Alton Towers soll zur neuen Saison für 38,4 Millionen Mark mit einer neuen Generation von Achterbahnen ausgestattet werden. Auch Thorpe bekommt 2002 eine neue Achterbahn, die zehn Kopf-über-Kreise beschreibt. Die einzige nicht profitable Attraktion der Gruppe, ein Showbusiness- Wachsfigurenkabinett am Londoner Piccadilly Circus, wurde im August geschlossen.
In Großbritannien hat die Tussaud-Gruppe einen kaum noch zu übertreffenden Marktanteil erreicht. Das von Charterhouse eingebrachte Management hat erreicht, dass sich im Portfolio saisonabhängige Freizeitparks mit den wetterunabhängigen Wachsfigurenkabinetten und dem Millennium Wheel ergänzen.
--------------------------------------------------------------------------------
"In den nächsten fünf Jahren werden noch viele Freizeitparks zum Verkauf kommen."
Robert Roger, Tussaud-Gruppe
--------------------------------------------------------------------------------
Um neue Einkommensströme zu erschließen, muss die Gruppe zwangsläufig im Ausland expandieren. "Neben Wachstum aus eigener Kraft sind wir sehr an europäischen Akquisitionen interessiert. In Europa ist der Markt sehr zersplittert, und es gibt viele Gelegenheiten für Konsolidierungen. Es gab eine Welle von Millennium-Attraktionen, von denen nur die stärksten überleben werden. In den nächsten fünf Jahren werden noch viele Freizeitparks zum Verkauf kommen, und wir werden aus dieser Situation unseren Vorteil ziehen", kündigt Robert Roger, Finanzchef der Tussaud-Gruppe an.
Soltau scheint aus britischer Sicht ein guter Deal, um auf dem Kontinent Fuß zu fassen. Der Heide-Park verfügt auch über eine Achterbahn der Superlative, zieht zwei Millionen Besucher pro Jahr an und liegt damit in einer Größenordnung zwischen Alton Towers und den anderen britischen Parks.
Als Charterhouse 1998 Tussaud aufkaufte, war es Ziel der Investmentkapitalfirma, die Anteile an rund 30 europäischen Unternehmen hält, die Gruppe bis 2003 an der Börse einzuführen. "Wir halten unseren ursprünglichen Fahrplan recht gut ein. Aber die nächsten zwei Jahre brauchen wir noch", sagt Roger. (SAD)
Jens Uwe Kupka